La Grande Bouffe

Marco Ferreri | 1973 | 130 Min. | FR/de
22.10.2020 | Kulturbetrieb Royal, Bahnhofstrasse 39, 5400 Baden | 20.00 Uhr

Vier gut situierte, ältere, weisse Männer treffen sich zu einer opulenten Fress- und Sexorgie mit kollektivem Suizid. Mit «La Grande Bouffe» hat Marco Ferreri 1973 eine satirische Kritik an der bürgerlichen Konsumgesellschaft vorgelegt. Gleichzeitig sorgte er mit dem Film für einen der grossen Cannes-Skandale. Im Rahmen von «royalscandalcinema» erklärt der Medientheoretiker Baldassare Scolari weshalb.

Ein Gerichtsdirektor, ein Fernsehproduzent, ein Flugkapitän und ein Restaurantbesitzer treffen sich in einer Villa. Dort geben sie sich einem opulenten Gelage hin. Kontinuierlich werden deliziös zubereitete Speisen aufgetischt. Das erklärte Ziel der vier Freunde: Der kollektive Suizid durch Übersättigung. Dazu gesellen sich drei herbeigerufene Prostituierte und – eher zufällig – eine Lehrerin aus einfachen Verhältnissen. Mit ihnen wird die exzessive Fresserei vollends zur Orgie. Dazu wird freudig flatuliert, vomiert und defäkiert.

Progressive Kritiker feierten den Film als Metapher für das Dasein der Bourgeoisie und als satirische Kritik einer selbstzerstörerischen Konsumgesellschaft. Die «Fédération internationale de la Presse Cinématographique» zeichnete das Werk mit ihrem Filmpreis aus. In Deutschland erhielt der Film die «Goldene Leinwand». Kommerziell war er ebenfalls ein Erfolg. Retrospektiv kann festgehalten werden, dass sich der Film zu einem der kanonischen Klassiker des Französischen Kinos entwickelt hat: Ein Kultfilm mit Starensemble.

Bei seiner Uraufführung am Filmfestival von Cannes wurde «La Grande Bouffe» 1973 allerdings zum grossen Skandalereignis. Die kapitalismuskritische Note – oder deren Darstellung anhand allzu expliziter Bilder und begleitender Geräuschkulisse – sorgte für Empörung. Angeekelt verliessen die Mitglieder der Festivaljury den Kinosaal noch während der Visionierung. Filmlegende Ingrid Bergman, welche die Jury präsidierte, meinte, der Film sei einer der vulgärsten und schmutzigsten Filme überhaupt. Den versammelten Presseleuten gestand sie, dass sie sich beim Schauen des Films habe übergeben müssen. Die bürgerliche Presse zerriss den Film als infamen Anschlag auf die Ehre der Nation. Die Schauspieler*innen berichteten von persönlichen Angriffen: Andréa Férréol soll in mehreren Pariser Restaurants Hausverbot erhalten haben; Michel Piccoli wurde öffentlich als «Drecksau» beschimpft. In Irland durfte der Film vorerst nicht gezeigt werden. Filmaufnahmen zeigen, wie Teile des Publikums skandierten, man solle den Regisseur erhängen. Dieser reagierte mit Kussgrüssen. Trotz oder gerade wegen all der heftigen Reaktionen wurde «La Grande Bouffe» zum grössten Filmerfolg von Marco Ferreri.

Kontextualisiert wird der Film und seine Skandalisierung durch Baldassare Scolari, der bei «royalscandalcinema» vor vier Jahren bereits Pier Paolo Pasolinis «Teorema» eingeführt hat. Scolari ist Dozent für Medientheorie und Medienethik an der Berner Fachhochschule und der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur. An der Universität Graz forschte er im Projekt «Commun(icat)ing Bodies», an der Universität Luzern zu «Text und Normativität». In seiner Doktorarbeit, die unter dem Titel «State Martyr: Representation and Performativity of Political Violence» veröffentlicht wurde, widmete er sich der Figur des Märtyrers in den politischen und religiösen Diskursen Italiens. Anhand von «La Grande Bouffe» (oder wie Scolari sagt: «La grande abbuffata») soll gleichsam eine vertiefte Analyse des Filmfestivals von Cannes als Raum, Plattform und Inszenierungsmaschinerie cineastischer Skandalisierungsprozesse vorgenommen werden.