Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.

Richard Dindo / Niklaus Meienberg | 1976 | 99 Min. | DE
04.01.2018 | Kulturbetrieb Royal, Bahnhofstrasse 39, 5400 Baden | 20.00 Uhr

Eine gerechtfertigte Kritik militärischer Klassenjustiz oder ein schmieriges kommunistisches Pamphlet? Der von Richard Dindo und Niklaus Meienberg gedrehte Dokumentarfilm über Ernst S., der im Zweiten Weltkrieg als Landesverräter hingerichtet wurde, erregte in den späten 1970er Jahren die Schweizer Öffentlichkeit – und scheint sie bis heute zu beschäftigen.

Der Film behandelt Leben und Tod von Ernst Schrämli, welcher 1942 im Alter von 23 Jahren wegen Landesverrats erschossen wurde. Er war der erste von 17 Männern, welche im Zweiten Weltkrieg durch die Schweizer Militärjustiz zum Tode verurteilt wurden. Ernst Schrämli wurde vorgeworfen, die Schweiz verraten zu haben, indem er einem deutschen Agenten einige Granaten und eine Skizze über Bunker- und Artilleriestellungen zugespielt habe.

Dindo und Meienberg hinterfragen die Sprengkraft dieser Geheimnisse, die so geheim nicht gewesen seien. Sie zweifeln die Verhältnismässigkeit des Todesurteils an und werfen die Frage auf, ob es im Zweiten Weltkrieg nicht gravierendere Fälle von Landesverrat gegeben habe.

Methodisch im Sinne der damals neuartigen «Oral History» spüren sie dem Leben von Ernst Schrämli nach. Durch Erzählungen von Verwandten und Bekannten erfährt das Publikum wie Ernst Schrämli aufgewachsen ist, wie ihn sein Umfeld erlebt und wahrgenommen hat, wie sie das Verbrechen und seine Ahndung aus ihrer Perspektive interpretierten. Parallel dazu wird ausgeführt, wie hohe Offiziere, Wirtschaftsmagnaten und Politiker mit den Nationalsozialisten sympathisierten und zuweilen konkret zusammenarbeiteten.

Dindo sieht den Fall «Ernst S.» – wie Niklaus Meienberg, auf dessen Reportage der Film aufbaut – als Beispiel dafür wie die Schweizer Militärjustiz im Sinne einer Klassenjustiz an einfachen Soldaten und Arbeitern Exempel statuierte, während auf der anderen Seite toleriert wurde, wie hochrangige, bürgerliche Offiziere, Politiker und Unternehmer Sympathien für das Dritte Reich hegten und sich durch Waffenhandel oder andere Kriegsgeschäfte bereicherten.

Die These dieser Reportage: Ein harmloses Verbrechen mit viel zu harter Bestrafung – Ernst S. als armer Sündenbock zur Ablenkung und Selbstvergewisserung der bürgerlichen Justiz. In der Schweiz der 1970er Jahre wurde diese Darstellung kontrovers aufgenommen. Bürgerliche Kritiker warfen Dindo und Meienberg «Manipulation», «geistigen Terror» und «Hinterhältigkeit» vor. Andere wiederum nahmen das Narrativ begeistert auf und forderten eine Dekonstruktion von Mythen wie Neutralität, Wehrhaftigkeit und Klassensolidarität.

Um diese Debatten zu verorten hat «royalscandalcinema» Jakob Tanner eingeladen, einen der besten Kenner der damaligen Zeit. Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der neueren und neuesten Zeit am Historischen Seminar und an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich. Mit seiner Doktorarbeit zu «Bundeshaushalt, Währung und Kriegswirtschaft» setzte er 1986 selbst einen Meilenstein der kritischen Forschung zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Als Mitglied der «Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg», der sogenannten «Bergier-Kommission» führte er diese Arbeit fort. Weiter forscht und forschte er zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, zur Geschichte der Schweiz im europäischen Kontext, zur Wirtschafts-, Unternehmens- und Finanzgeschichte, zur Geschichte von Ernährung, Drogen und Psychiatrie. Mit der Eröffnung neuer Forschungsfelder wie auch durch seine pointierten Stellungnahmen als kritischer Intellektueller hat er die Schweizer Geschichtsschreibung seit den 1980er Jahren massgeblich geprägt. Anhand von «Ernst S.» wird «royalscandalcinema» über jenen – in seinen Worten – «schizophrenen Zustand der Schweiz im Zweiten Weltkrieg» diskutieren.